hindemith

ZUM KLAVIERWERK VON PAUL HINDEMITH


Wie viele andere vor mir, bin auch ich in meiner Jugend- und Studienzeit in ein unbewusst übernommenes, festgefahrenes Hindemith –(Vor)Urteil hineingewachsen. Die paar wenigen Begegnungen, welche ich als junge Pianistin mit diesem Komponisten hatte – sei es durch Spielen vereinzelter Kammermusikwerken (op 11) oder Hören eines Orchesterwerkes – liessen mich zwar immer wieder an diesem Hindemith-Bild zweifeln. Doch erst als der Zufall es wollte, dass ich vor einigen Jahren in einer relativ kurzen Zeitspanne gleich vier Werke Hindemiths einstudieren musste (die « Suite 1922 », die « Kammermusik Nr1 », die « Vier Temperamente » und die Sonate für Kontrabass und Klavier) , ich also gezwungen war, mich auf eine viel intensivere Art und Weise mit dieser Musik zu beschäftigen als bis anhin, konnte ich meine zum Teil unbewussten Vorurteile definitiv über Bord werfen. Mein lebendiges Interesse an Hindemith war geweckt.


Natürlich gibt es auch bei Hindemith wahre Spezialisten, welche sich intensiv mit diesem Komponisten beschäftigen und somit einen viel tieferen Zugang zu dessen oeuvre, eine profunde und voruteilslose Kenntis von Hindemith’s Leben und Werk haben.

Da ich mich aber nicht unbedingt nur in diesen Spezialistenkreisen bewege, glaube ich sagen zu können, dass auch heute noch der Musik Hindemiths oft der Ruf anhängt, (vor allem in der lateinischen Welt!) sie sei – wohl etwas überzeichnet gesagt – von einer spröden, unsinnlichen und emotionsarmen Intellektualität, schulmeisterlich und dementsprechend künstlerisch von nicht sehr hohem Wert.


Selbst der so offene, interessierte und intelligente Alfred Brendel, der zu den grossen Musikerpersönlichkeiten zählt, welche die nachfolgende Generation nachhaltig zu beeinflussen vermögen, erwähnt diesen Komponisten in seinen zwei Büchern « Nachdenken über Musik » und « Musik beim Wort genommen » gerade mal mit drei Randbemerkungen, in welchen eine eher negative Haltung Hindemith gegenüber kaum zu überhören ist.  In einem Interview am Schluss des einen Buches wird Hindemith noch kurz mit einem einzigen Satz zitiert , und Hindemith so « kurz » zu zitieren ist generell gefährlich, da der Komponist seinen kernigen, zum Teil provokativen Aeusserungen wenig später oft widersprochen, oder sie zumindest relativiert hat.


Ich möchte selbstverständlich niemandem das Recht auf seinen ganz persönlichen Geschmack absprechen, doch im Falle Hindemiths scheint mir dieser « persönliche  Geschmack »  oft von Unkenntnis, Halbwissen und übernommenen Vorurteilen mitgefärbt zu sein. So geschehen in jungen Jahren auch bei mir.


Ebenfalls betont werden muss aber auch, dass sich über so lange Zeit hartnäckig haltende Vorurteile nur sehr selten als hundert-prozentig aus der Luft gegriffen herausstellen. Das äussere Erscheinungsbild einiger wenigen Werke Hindemiths mag uns auf den ersten Blick tatsächlich als etwas blutlos-intellektuell und schulmeisterlich entgegentreten. Befasst man sich mit Hindemiths  Welt aber näher, wird man rasch die verschiedenen Faktoren anders gewichten. Die so oft geäusserten Vorbehalte lösen sich dann zwar nicht einfach in Luft auf, aber sie treten so in den Hintergrund, dass sie an Bedeutung verlieren und kaum noch der Rede wert sind.   


Trotz all diesen Bemerkungen braucht man Hindemith heute natürlich keine Lanze  zu brechen. Hindemith-Forscher -,Kenner -,Liebhaber und Literatur über diesen Komponisten und sein oeuvre sind äusserst zahlreich. Die Hindemith-Stiftung in Frankfurt gross, einflussreich und aktiv. Auf dem Konzertpodium ist Hindemith seit eh und jeh unvergleichlich häufiger anzutreffen als etwa sein grosser, von mir sehr verehrter Zeitgenosse Karl Amadeus Hartmann.  Jeder Musiker hat Hindemith irgendwann gespielt, jedes Publikum Hindemith irgendwann gehört. Alle  kennen  ihn.


Doch was heisst « kennen » in dem Fall genau ? Wenn wir von den ausgewiesenen Spezialisten absehen, ist diese « Kenntis » meist einseitig und unvollständig. Ganz besonders gilt dies im Bereich der Pianisten und Hindemiths Klavierliteratur.


DAS KLAVIERWERK


Ausnahmslos jeder Pianist weiss von der Existenz des « ludus tonalis » ; nur sehr, sehr wenige spielen ihn auch. Noch nie hab ich dieses Werk auf einem Konzertprogramm gesehen. (Was natürlich nicht heissen will, dass es gar nie aufgeführt wird.) Ab und zu spielt ein Student irgendwo einen Ausschnitt. Eine Fuge, der er vielleicht noch ein Interludium voranstellt. 

Gerade in diesem fast einstündigen Werk scheint mir Hindemiths Maxime, Musik müsse unseren Geist intellektuell und emotional gleichermassen berühren, und seine  immer unbedingtes Streben nach perfekten Proportionen besonders gelungen. Löst man nun einfach ein oder zwei Stücke aus diesem Zyklus heraus, wie ab und zu praktiziert, sind diese Proportionen in jeder Hinsicht zunichte gemacht und die Stücke dementsprechend  reduziert.

Wenn man dann noch bedenkt, dass Hindemith die Stücke zwischen den Fugen Interludien und eben nicht wie Bach in seinem wohltemperierten Klavier Präludien nannte, wird  ein Herauslösen der einzelnen Stücke  eigentlich grundsätzlich unmöglich. Ich kann nicht verstehen weshalb das trotzdem praktiziert wird.

Doch immerhin – das Bewusstsein der Existenz des « ludus tonalis » existiert,  Ausschnitte werden sogar ab und zu gespielt und studiert.


Es gibt noch ein weiteres Werk, welches sich relativer Bekanntheit unter Pianisten rühmen darf. Es ist dies die, wenngleich für Hindemiths Schaffen nicht unbedingt repräsentative, aber doch sehr unterhaltsame « Suite 1922 ». Dieses Stück hat es sogar bis aufs Konzertpodium geschafft.


Anders jedoch verhält es sich mit Hindemiths übrigem, noch recht umfangreichen Klavierwerk.


Von der Existenz der drei grossartigen Klaviersonaten wissen heute die meisten Pianisten so gut wie nichts. Daran ändert auch die von der Rezension immer wieder so hochgelobte « legendäre, exzentrische Aufnahme » Glenn Goulds nichts. Auch dass diese Stücke von Altmeistern wie Gieseking und Cherkassky geliebt, gespielt und uraufgeführt worden sind scheint die heutige Pianistenwelt eher wenig zu interessieren. Dabei hätten es gerade diese Stücke verdient, aus ihrem Schattendasein aufs lebendige Konzertpodium hinauszutreten. Ich bin überzeugt, dass auch ein Hindemith-ungewohntes Publikum daran Gefallen finden würde.


Die bunte Sammlung kleiner Stücke « In einer Nacht » op 15 – ganz verschiedene, abwechslungsreiche Stücke mit deutlichen Reminiszenzen an Debussy, virtuosen Einlagen, Parodien auf populäre Opernmusik, melancholischen Erinnerungen, aber auch Modisches – einen Foxtrott – und zum Abschluss eine gewaltige « Doppelfuge mit Engführungen » mit einer guten Prise Ironie versehen – würden dem Zuhörer (wie auch dem Interpreten !) eine willkommene Abwechslung bieten.


Ein wirklicher Grund der Bevorzugung der « Suite 1922 » gegenüber den Tanzstücken op 19 ist mir eigentlich auch nicht ersichtlich


Unter weiteren Werken findet man unter anderem auch noch die extrem schwierig zu spielende « Klaviermusik » op 37. Ich gebe zu, dass ich selbst den Zugang zu diesen Stücken noch nicht wirklich gefunden habe ; sie jedoch gänzlich aus dem Pianisten-Repertoire auszuschliessen ist jedoch  mit Sicherheit nicht gerechtfertigt.


Weshalb aber spielt man nun diese Klavierwerke so selten ?

Darüber kann natürlich nur spekuliert werden. 


Als erstes wäre sicher die allgemein bekannte Macht der Gewohnheit und Tradition zu nennen. Dies gilt in selben Massen für alle Beteiligten, also Interpreten, Zuhörer und Konzertorganisatoren Etaws überspitz gesagt wollen Pianisten immer das selbe spielen, das Publikum immer das selbe hören, Organisatoren immer das selbe organisieren. Es ist normal, gute und schöne Erfahrungen immer wiederholen zu wollen. Aber gerade im Bereich der klassischen Musik wäre es genau so wünschenswert, ab und zu ein Risiko einzugehen, sich einzulassen etwas uns bis anhin Unbekanntes zu entdecken, und so vielleicht um eine neue schöne Erfahrung reicher zu werden.

Von dem oben genannten Trio, also Interpret, Zuhörer und Organisator, schätze ich übrigens, wenn auch von den andern zwei Beteiligten immer wieder das Gegenteil behauptet wird, generell den Zuhörer als offenstes und risikobereitestes Glied der Gruppe ein. Ich bin überzeugt, dass die Zuhörer im allgemeinen dankbar sind für Programme, in welchen unbekanntere, und auch neuere Musik wohldosiert neben traditionellem, klassischem Repertoire steht.

Ich glaube aber, dass die Hauptverantwortung bei uns Interpreten liegt! Wir sind im Konzert die Vermittler zwischen Komponisten und Publikum, und es liegt letztlich alleien in unserer Hand, unsere Konzerte so zu gestalten, dass sie für den Zuhörer zum einmaligen Erlebnis werden.


Ein weiterer, nicht zu vernachlässigender Punkt, ist die Tatsache, dass die meisten der Klavierwerke Hindemiths sowohl in musikalischer wie auch pianistischer Hinsicht äusserst hohe Anforderungen an den Interpreten stellen und ihre genaue Einstudierung extrem zeitaufwändig ist. Es ist nun mal so, dass kein Werk Hindemiths ins Repertoire junger Pianisten gehört, da dies in keiner für sie im allgemeinen relevanten Situation, also an Hochschulprüfungen, Stipendienvorspielen oder Wettbewerben, gefordert wird. Später fehlt dann oft aufgrund verschiedener Verpflichtungen schlichtweg die Zeit zur Einstudierung so komplexer Werke.

Ausserdem – und da sind wir wieder bei Punk eins – gibt es ja (noch) keine Tradition , und somit Garantie, des Erfolges für den Hindemith-spielenden Konzertpianisten; - das Resultat der Rechnung “Aufwand–Ertrag” riskiert da schnell einmal unbefriedigend zu werden... 


Am wenigsten verantwortlich für die Abwesenheit Hindemiths Klavierwerken im Konzertleben ist der Komponist selbst. Ich finde die meisten seiner Stücke dem Hörer (im lebendigen Konzert !) nicht wie oft behauptet « zu schwer zugänglich ». Der « ludus tonalis » ist zwar sehr lang – nur wenige Klavierwerke dauern fast eine geschlagene Stunde – aber für den Zuhörer abwechslungsreich, farbig und ein seltenes, bleibendes Erlebnis.  


Hindemith sagte : « In unserem Zeitalter überwiegen die Aufführenden an Zahl die Schaffenden in einem Masse das früher unbekannt war. Ihre Fähigkeiten, Stellungnahme und Geschmacksrichtungen sind vielleicht die stärkste Kraft geworden, welche Art und Richtung unserer Musikentwicklung bestimmt. Selbst der Stil des emotionellen Ausdrucks in unseren Kompositionen, ganz zu schweigen von deren äusseren technischen Erscheinungsformen ist in weitem Masse durch die Begabung und Wünsche der Aufführenden bestimmt, so dass in vielen Fällen der eigentliche Schöpfer der Musik degeneriert ist zu einem Hersteller von Klangeffekten für Klavierspieler, Streicher, Orchester und so weiter. »


Dieser Tatsache geht Hindemith dann noch weiter auf den Grund und er nennt diese Höchstbewertung der « Umformerstation » (Interpret), die zwischen dem Musikgenerator und dem Musikkonsument liegt,  « ungerecht und gefährlich ». 

Er hatte offensichtlich grosse Angst davor, dass seine Stücke durch den Interpreten in « angenehm klingende Nichtigkeiten » und « ungehemmte Oberflächlichkeit » abgleiten.

Wir Interpreten werden in die Verantwortung gezogen und sind gewarnt !


Gleichzeitig zeigte Hindemith aber auch grossen Respekt vor seinen Interpreten und deren Wohl lag ihm sehr am Herzen.

Walter Gieseking, der für die Uraufführung der ersten Klaviersonate  vorgesehene Pianist, hat zum zweiten Satz dieses Stückes offensichtlich keinen Zugang gefunden und seine Zweifel geäussert. Hindemith schickte daraufhin dem Verlag kurzerhand einen neuen zweiten Satz, mit dem dem Hinweis, er wolle, “dass der helfende Gieseking Spass am Spielen habe.” ( Der ursprüngliche zweite Satz, die tatsächlich sehr diffizilen “Variationen” wurden Jahre später als einzelnes Stück verlegt)


Auch Hindemiths Briefe an Paul Wittgenstein – Auftraggeber der “Klaviermusik mit Orchester” - zeugen von dem Wunsch des Komponisten, seinen Interpreten  “Freude zu bereiten”.

 

Er schreibt :

“...Es würde mir leid tun, wenn Ihnen das Stück keine Freude machen würde – vielleicht ist es Ihnen anfänglich ein wenig ungewohnt zu hören – ich habe es mit grosser Liebe geschrieben und habe es sehr gerne.”


Und in einem späteren Brief :

“ Hier erhalten Sie die drei letzten Sätze Ihres Stückes und ich hoffe, dass sich nach Durchsicht der Partitur Ihr Schrecken wieder legen wird. Es ist ein einfaches, vollkommen unproblematisches Stück und ich glaube sicher, dass es Ihnen nach einiger Zeit Freude  machen wird. (Vielleicht sind Sie am Anfang ein wenig entsetzt, aber das macht nichts). Verstehen werden Sie das Stück auf jeden Fall – bei irgendwelchen Zweifelsfällen bin ich ja immer da, um Ihnen genaue Auskunft zu geben.”

Wie wir heute wissen hat sich Herr Wittgenstein über das besagte Werk aber anscheinend zu sehr “entsetzt” und es nie öffentlich gespielt. 


Dem, der jetzt noch weiter lesen mag, möchte ich auf den folgenden Seiten ein kurzes Porträt der faszinierenden, provokativen, weitsichtigen, von hohen Idealen geleiteten Künstler-Persönlichkeit Hindemiths zeichnen. Selbstverständlich subjektiv gewichtet und ohne jeglichen Anspruch auf Vollständigkeit. Der « interessierte Hindemith-Nichtkenner » findet darin vielleicht Erstaunliches und Unerwartetes. 


PAUL HINDEMITH (1895 – 1963)


Paul Hindemith wurde 1895 in Hanau bei Frankfurt geboren. Natürlich ist er in allererster Linie Komponist, doch zu  Lebzeiten nahmen seine Aktivitäten als Bratschist, Dirigent sowie seine Lehrtätigkeiten in Komposition und Musiktheorie einen fast ebenso wichtigen Platz ein wie das Komponieren.

Er verlässt das Nazi-Deutschland 1938, übersiedelt zunächst in die Schweiz und wandert 1940 in die USA aus, wo er ein paar Jahre später auch amerikanischer Staatsbürger wird.

1950 kehrt er schliesslich in die Schweiz zurück und nimmt einen Lehrauftrag an der Universität Zürich an.

Bis   zu seinem Tod 1963 lebt er in Blonay am Genfersee.


Wenn man sich mit Hindemiths Werk in Ton und Schrift befasst, begegnet man einem originellen Denker. Alles was er anfasst, betreibt er exzessiv und kompromisslos. Er komponiert meist in einem wahnwitzigen Tempo und ist so produktiv wie kaum ein anderer. Seine Ansprüche an sich selbst und andere sind  immens ; so fordert er zum Beispiel, ein Komponist müsse JEDES Instrument spielen können ! 

Sein musikalisch-philosophisches Fundament, auf dem er sein Werk aufbaut, ist tief in der Vergangenheit verwurzelt : Schriften des Heiligen Augustin und Boethius aus dem fünften und sechsten Jahrhundert.   

In seinen engagierten Texten findet man provokative Thesen aber auch komplexe Gedanken zu Themen wie musikalische Inspiration oder gefühlsbetonte Musikwahrnehmung. Er poltert und wettert gegen alles und jeden – Zwölftonmusik, Dirigenten, Interpreten, Klavierrezitals, den Musikbetrieb, Aber nie verharrt er in destruktiver Kritik sondern bringt immer auch konstruktive, ab und zu utopische Lösungsvorschläge zur Verbesserung der Missstände. 


Um das an einem eher amüsanten Beispiel zu veranschaulichen, möchte ich Ihnen seine Abrechnung mit den Musikkritikern, mit welchen er besonders hart ins Gericht geht, beschreiben.

Er schimpft über die Tatsache, dass Beschwerden seitens der Musiker über gewisse Kritiken bei den Zeitungsredaktionen kein Gehör fänden mit der Begründung, dass es das « heilige Recht der Kritik » sei, all das zu schreiben, was sie gerade will. « Doch folgt daraus automatisch, » – fragt Hindemith – « dass es die « heilige Pflicht des Musikers » sei, sich falsch beurteilen zu lassen ? »


Zu diesem Problem liefert er nun seine « Lösung ».

Man müsse eine ständige Beschwerden- und Beratungsstelle einrichten. Fünf bis sieben Mitglieder der einen Partei – Musiker – und ebensoviele Kritiker und Mitglieder von Zeitungsverlägen, sollen eine Kommission bilden, welche alle drei Jahre neu gewählt würde. Zwei Mal jährlich tage dann diese Kommission, um über die eingegangenen Beschwerden zu beraten. So könnten untragbare Kritiker entfernt, zu Unrecht Angegriffene beiderseits rehabilitiert und rabiate Musiker besänftigt werden. Ziel des Ganzen wäre, bei den Musikkritikern eine grössere Gewissenhaftigkeit und Verantwortung hervorzurufen und « Vermeidung von Tätlichkeiten ».

Nur wenige Zeilen später gibt er allerdings die Utopie des Projektes zu. Musiker seien abhängig von Kritikern und würden aus Angst vor einer geschäftsschädigender Rezension so einer Kommission niemals zustimmen. « Und ausserdem »  - so fragt er weiter – « sind sich fünf oder sieben Musiker jemals einig gewesen ? »

Zum Schluss fordert er : « Nehmt der Kritik ein wenig von ihrem Selbstbewusstsein ; gebt dafür dem Musiker die Möglichkeit auf legalem Wege Einwände und Beschwerden zu äussern. Wir gewännen dadurch eine Menge Zeit und Kraft, die bis jetzt nutzlos in Angriffen und Aerger verbraucht wird. Sie könnte zur Förderung der Musik nützlich verwertet werden. »


Dieses kurze Beispiel ist musikhistorisch natürlich nicht ganz so bedeutend, aber es zeigt Hindemith in einer Art und Weise, wie wir ihn in seinem gesamten œuvre immer wieder treffen:

Ein verletzlicher Künstler, radikal, selbstironisch und mit Humor. Ohne Angst vor Widersprüchen, Provokation und Konfrontation. Stets um konkrete Lösungen für seine hohen Ideale ringend und tief im praktischen Leben verwurzelt mit immer nur einem Ziel vor Augen : Die Förderung der Musik.


Selbstverständlich wurde solch eine Kommission nie gegründet und an dem schwierigen Verhältnis zwischen Musiker und Kritikern hat sich bis heute leider nichts geändert.


In anderen Bereichen waren Hindemiths Vorstellungen aber durchaus visionär. So schreibt er in seinem Artikel « Gefühlsbetonte Musikwahrnehmung » :

« Wissenschaftler, deren Arbeitsgebiet die Erforschung der Musik und aller mit ihrer Produktion und Reproduktion zusammenhängenden Fragen ist hätten statt musikalisch durchschnittlich oder minderbegabte Versuchspersonen zu fragen, wie sie Musik anhören und was ihre Gefühle dabei sind, besser den Musiker, besonders den schöpferischen Musiker aushorchen sollen, wie er diese und jene gefühlsmässige Reaktion beim Hörer hervorbrachte – das wäre aufschlussreicher gewesen. Wissenschaft scheint aber eine ebensolche Scheu von der Musik zu haben, wie der Musiker vor der Wissenschaft. Jeder scheint sich in seinen gewohnten Jagdgründen gestört zu fühlen wenn der andere in der Nähe ist… Die wesentlichen Aufschlüsse zu diesen Fragen werden erst zu erhalten sein wenn die Wissenschaft sich mit dem wissenschaftlich interessierten und wissenschaftlicher Erkenntis zugänglicher Musiker zu gemeinsamer Forschung zusammensetzen wird… »


Die Zusammenarbeit von Kunst und Wissenschaft ! Eine frühe Forderung, die heute, Jahrzehnte nach Hindemiths Tod, im Zeitalter der Neurowissenschaften  einen richtigen Boom erlebt. 


Auch seine oft leichtfertig belächelten Ideale über Musik als friedensspendende, völkerverbindende Kraft kann man heute in einem etwas anderen Licht sehen. Er schreibt :

« Böse Menschen haben keine Lieder – so heisst es. Aus einer ins Grosse gewachsene Amateurmusik-Bewegung könnte sich möglicherweise eine aktive Friedensaktion über die Welt verbreiten – dem Sport ist das trotz seiner grenzfreien Weltverbreitung nicht gelungen, da er, im Gegensatz zum gemeienschaftlichen Musizieren, immer auf dem Wettstreit beruht und daher nie frei von Gedanken an Kampf, Krieg und Ueberwindung eines Gegners sein kann. »

Er fordert ferner die amerikanische und russische Regierung auf, sich geschlossen einmal wöchentlich mit der Gegenseite zu gemeinsamen Orchesterspiel und Chorsingen zu treffen um damit der Welt ein Beispiel der Eintracht zu geben. « Menschen, die miteinander musizieren, können keine Feinde sein – wenigstens nicht solange die Musik dauert. »


Manch einer lächelt ob soviel Idealismus. Aber fast alle applaudieren wenn Daniel Barenboim heute mit seinem « West-Eastern Divan Orchestra » durch die Welt reist.


Hindemiths Schriften zu sämtlichen Themen, die von nah oder fern irgendwie die Musik betreffen sind so zahlreich und intensiv, dass es sehr schwerfällt eine Auswahl zu treffen. Ich möchte noch auf zwei Punkte hinweisen, welche mir besonders charakteristisch für diesen Musiker scheinen.


Immer wieder betont Hindemith die Wichtigkeit der Laienmusiker. Er betrachtet den Laienmusiker, der sich ernsthaft mit musikalischen Dingen befasst, als ebenso wichtiges Glied unseres Musiklebens, wie der ernsthaft arbeitende Musiker. Er sei entschieden wichtiger als der sich nur dem blossen Genuss hingebenden Zuhörer von Konzerten und er fordert den Amateurmusiker auf, sich seiner Stellung im Musikleben bewusst zu sein.  Er soll aber nicht versuchen den Künstler zu imitieren und das öffentliche Konzertpodium erobern zu wollen. Man habe immer zwischen zwei entgegengesetzten Arten des Musizierens zu unterscheiden : « Vorspielen und Selbstspielen. Vorspielen ist der Beruf des Musikers, Selbstspielen Beschäftigung des Laien. Beide Arten sind für die Musikentwicklung gleich wichtig. »

Sowohl auf Seiten der Berufsmusikers als auch der Amateurmusiker gäbe es aber überzüchtete, sich selbst überschätzende Beispiele, die zu verdammen seien, da sie nichts zur Entwicklung beitrügen.


Ferner bedauert er, dass es für Laien nur wenig geeignetes Repertoire gibt und wünscht sich, « dass die Zusammenarbeit zwischen  den produzierenden Musiker und den konsumierenden Laien eine innigere würde. »

Durch die ständige gemeinschaftliche Zusammenarbeit würde es dem Komponisten möglich sein, die Literatur zu schreiben, die der musizierende Laie braucht, um seinen Geschmack zu bilden, seine musikalische Erziehung zu fördern und so ein noch wichtigerer Faktor im Musikleben zu sein, als er heute schon ist.


Hindemith selbst ist seiner Forderung nachgekommen und hat immer wieder für Laien und auch Kinder Stücke geschrieben.


Zum Abschluss möcht ich noch das Thema ansprechen, auf dem Hindemith unbestritten Pioneersarbeit geleistet hat : die historische Aufführungspraxis alter Werke.

Der Komponist hatte stets ein intensives Interesse an allen Arten von Instrumenten. Sowohl den ganz Neuen, noch kaum gespielten, wie dem Trautonium und dem Heckelphon, wie auch eben den alten, zu Hindemiths Zeit nicht mehr gespielten wie Gamben, Theorben usw.

In den Vierziger-Jahren erarbeitete er mit seinen Studenten in Amerika ein ganzes Repertoire damals kaum gespielter alter Musik wie Monteverdis Orfeo und führte sie historisch so getreu als möglich auf. Die alten Instrumente dazu wurden ihm einerseits  aus der Instrumentensammlung der Yale University oder des Metropolitan Museum of Art in New York zur Verfügung gestellt, andrerseits aber – so erzählt einer seiner Studenten, der nach Amerika ausgewanderte deutsche Komponist Gerhard Samuel, - liess er seine Schüler diese Instrumente auch selbst nachbauen, um sie nachher im Konzert zu spielen !


Ein bei Music and Arts publizierter Mitschnitt dokumentiert eines dieser Monteverdi-Konzerte aus dem Jahre 1954.


Mögen Sie zu Ende dieses « Porträts »,  - das keinesfalls eines sein kann, da ich aus einem riesigen farbigen Mosaik nur gerade zwei drei Steinchen ganz kurz beleuchtet habe –  noch die abschliessenden Bemerkungen Hindemtiths aus seinem Buch « Komponist in seiner Welt «  lesen.


« …Er (der Komponist) kennt das Wesen der musikalischen Eingebung und weiss, wie die intellektuellen und emotionellen Tiefen unserer Seele anzusprechen sind. Die ethische Macht der Musik ist ihm zu Diensten, und er wird sie mit moralischer Verantwortung anzuwenden wissen. Ein begeisterndes schöpferisches Ideal wird ihm vorschweben ; die Suche nach ihm geht Hand in Hand mit dem unerschütterlichen Glauben an die Hoheit unserer Kunst, mit der Kraft, überzeugende und erhebende Formen zu finden um uns mit der Sprache der Reinheit zu berühren. Ein Leben das solchen Regeln folgt kann nicht umhin, andere zur Teilnahme zu bewegen. Ein Leben in und mit Musik, das wesentlich ein Besiegen äusserlicher Gewalt und ein ehrfürchtiges Bekenntis zum Schöpfergeist ist, kann nur in Demut geführt werden ; es will von seinem Besten dem Mitmenschen geben, nicht wie ein Almosen dem Bettler, sondern ein Freund mit dem Freunde allen Besitz teilend.

Zusammenfassend können wir sagen : für die künstlerischen Nöte unserer Zeit gibt es so wenig ein universales Rezept wie für die Heranbildung des schöpferischen Talentes. Wie aber bei der Fahrt durch einen Tunnel ein winziger leuchtender Punkt vor uns die ganze Helle und Weite des Tages verspricht, so darf uns auch in einem einzigen Satz die Stellung und Aufgabe des Komponisten in unserer Zeit aufleuchten ; es ist die Aufforderung, Bitte, Mahnung : denke nicht an dich selbst, frage immer nur, was kann ich dem Nächsten geben.

Der innerste Grund für solche Bescheidenheit ist die Ueberzeugung des Musikers, dass jenseits aller rationalen Erfahrung und aller Kunstfertigkeit eine Region der Visionen und des Unerforschbaren liegt, in der die verschleierten Geheimnisse der Kunst wohnen – gefühlt, doch nicht erklärt ; gebeten, doch nicht befohlen ; sich neigend, doch nicht unterwerfend. Wir können diese Region nicht betreten, wir können nur hoffen, als einer ihrer Verkünder auserlesen zu sein. Wessen Hoffnung erfüllt wird, wer dazu mit Weisheit und Ergebung vor dem Unwissbaren begabt ist, der Mann welchem der Himmel den schöpferischen Geist verlieh, er ist’s, der uns das Geschenk bringen wird das wir ersehenen : die grosse Musik unserer Zeit. »


Mir persönlich bleibt noch, demjenigen eine gute Reise zu wünschen, der jetzt aufbrechen mag, um eines Tages das ganze Mosaik zu entdecken. Es würde mich freuen, wenn wir uns auf auf diesem Weg wieder einmal begegnen würden.  


Quellen :

Paul Hindemith : "Komponist in seiner Welt" und "Aufsätze, Reden, Vorträge" 

                            (Atlantis Musikbuch)